Interview, 23. Februar 2011

Marcus Gammel (MG) spricht mit mit Götz Naleppa (GN), Wolfgang Hagen (WH), Andreas Bick (AB) und Natalie Singer (NS) über die Sendung „Klangkunst“, zu hören bei Deutschlandradio Kultur.

MG: Einmal wöchentlich findet sich im Programm von Deutschlandradio Kultur die Sendung „Klangkunst“. Was verbirgt sich hinter diesem Titel?

GN: Ganz einfach ausgedrückt: Klangkünstler benutzen alles was klingt als Material zur Komposition. Sie setzen klingende Umwelt oder künstlich erzeugte Geräusche kompositorisch um, so wie früher die Notenschrift oder die improvisierte Musik mit klassischen Instrumenten umgesetzt wurde. In der Klangkunst ist das Instrumentarium nun erweitert um die technischen Möglichkeiten der Gegenwart: Das Aufzeichnen und das synthetische Erzeugen von Klängen.
Der Begriff Klangkunst umfasst dabei natürlich viel mehr als das, was im Radio zu hören ist. Auditive Live-Künste haben ebenso daran Teil wie die Performancekunst oder die Installationskunst. Darüber ist die Klangkunst eng mit der Bildenden Kunst verbunden. Und schließlich gehören auch auditive Netzkünste zu diesem Feld. Klangkunst im Radio ist also ein Unterbegriff, der aber elementar zur Klangkunst gehört, und dessen Geschichte bis in die Anfänge des Radios zurück reicht.

WH: Ich finde den Begriff Klangkunst nicht ganz so klar umrissen, auch wenn Götz im Prinzip natürlich Recht hat. Ich würde aber lieber der Frage nachspüren, wieso man ausgerechnet bei diesem Begriff eine solche definitorische Wut entwickelt. Es sind ja zwei riesige Begriffe, die da zusammengefügt sind, und das macht die Sache so explosiv im Kopf: Erstens ‚Klang’ und zweitens ‚Kunst’. Ich denke, dass die Begriffe deswegen zusammengehören, weil man sie immer wieder auseinander denken muss und weil man die Veränderung, dessen was Klang heißt und dessen was Kunst heißt, im 20. Jahrhundert und bis hin ins 21. mitdenken muss. Gerade der Klang hat den Begriff der Kunst mit verändert und umgekehrt hat Kunst in ihrer Entwicklung uns gelehrt was Klang sein könnte. Wenn man also die Frage stellt, wie Anfang des 20. Jahrhunderts der Begriff Klangkunst verstanden worden wäre, dann wäre das eigentlich nur großes Kopfschütteln gewesen. Die einzigen, die uns verstanden hätten, wären die Futuristen um Luigi Russolo gewesen. Die hätten gesagt, wir haben alles bei ihnen geklaut.

GN: Der Begriff kommt bei dem Romantiker Novalis zum ersten Mal vor, zu einer Zeit, in der es weder Radio noch Klangkunst gab.

WH: Bei Novalis überzeugt mich das sofort, weil es da um eine Selbstaufschreibung von Natur geht. Das ist Novalis’ großes Thema. Wie schreibt sich Natur selbst auf, ohne dass der Mensch etwas dazu tut? Da sind wir ja auch wieder bei Klangkunst: Diese Selbstaufschreibung, von dem was da ist, ohne dass wir dabei sind – vielleicht auch eine Fiktion – das wäre mit Klangkunst zu verbinden.

AB: Bei einer solch weiten Definition von Klangkunst schließe ich mich gerne an. Im engeren Sinne verstehe ich unter Klangkunst aber erst mal die Installationsklangkunst, die ja auch an Raum gebunden ist und die immer mit der Räumlichkeit arbeitet. Wenn man das weiter denkt, dann kann man eigentlich schon bei den Äolsharfen der Antike beginnen. Das waren im Grunde auch Klanginstallationen.
Es gibt bestimmte Termini, die sind historisch tradiert, die haben sich eingeschliffen, wie 'Musique concrète' und das verbinde ich dann eher mit den 50er und 60er Jahren, mit Edgar Varèse und Pierre Schaeffer und den Folgen. Ich würde diesen Begriff aber nicht für meine heutige Kunst benutzen, sondern ich würde sie eher an das jeweilige Medium koppeln. Also: mit welchem Medium arbeite ich? Aus dieser Perspektive finde ich die Begriffe 'Radiokunst' oder „akustische Kunst“ recht treffend-

NS: Ich glaube der Name für diese Kunstform hängt von dem Kontext ab, in dem man Klangkunst diskutiert. Jetzt sind wir in einem radiophonen Kontext. Wenn ich in der Uni in meinem medialen, medienkünstlerischen Kontext bin, dann habe ich es mit bildenden Künstlern zu tun, die natürlich nur an Klangkunst im Sinne von Bildernder Kunst denken, also Installationen, Klangskulpturen etc. In Deutschland hat Helga De LaMotte den Begriff hat mit ihrem Buch „Klangkunst“ verankert. In den einzelnen Kapiteln werden Klangkunst, Performance, usw. definiert. Das Kapitel zu Radiokunst, bzw. Radiokomposition fehlt leider. Es wurde schließlich der Elektroakustik zugewiesen. Also diese Gattung im Radio wurde von der Wissenschaft nie ernst genommen, und ich glaube das erklärt diese Definitionswut: Man möchte dieser im Radio existierenden Kunstform einen Platz einräumen. Wichtig ist dabei, dass man sie nicht mit der Musik gleichsetzen kann. Sie ist für die spezifischen Wahrnehmungsbedingungen des Radios gemacht.

WH: Das ist richtig. Gleichzeitig muss man aber die Flüchtigkeit dieser Kunstform im Auge behalten. Man darf nicht vorschnell etwas fixieren, denn ich glaube nicht, dass Radio den Begriff Klangkunst pachten darf. Das wäre Unsinn. Sondern: was wir in einem Sendeplatz namens Klangkunst machen, das ist ein Blick auf das, was da klingt und Kunst sein will, das kann aber genauso gut auch eine Installation sein. Es gibt Installationen, die kann man hören, ohne die Installation zu sehen. Sie erhalten dabei noch einmal eine neue Qualität. Die Werke von Tinguely zum Beispiel kannst Du mit geschlossenen Augen wunderbar perzipieren. Wenn Du die Augen öffnest, nimmst Du dann etwas völlig anderes wahr. Da sind wir bei der Frage Gesamtkunstwerk und wie überhaupt Kunst entsteht. Ich finde gerade beim Begriff Klangkunst gibt es die Herausforderung, immer wieder nachzudenken was Kunst ist und was Klang ist. Das ist großartig. Mehr kann man nicht von einem Begriff verlangen, als dass er einen permanent fragt, ist es das, was ich da höre? Ist es also Kunst, wenn man einfach einen Presslufthammer aufnimmt, der vor der Tür rattert?

GN: Viele Kunst lebt sicherlich von der Behauptung. Und dann mit der Zeit auch von der Bestätigung der Behauptung. Ich würde sogar noch ein Stück weitergehen: Selbst im Radio wird der Begriff schwimmend, wenn wir Klangkunst im Radio, sprich Radiokunst sagen, warum soll denn das Hörspiel nicht dazu gehören? Hörspiel ist Kunst im Radio in vielen Fällen. Mir wäre es lieb, wenn die Grenzen fließender wären. Es soll nicht eine konservativ pur erzählende und auf der anderen Seite eine abstrakte Klangkunstwelt geben, sondern es gibt eine Klangkunst im Radio, zu der auf der anderen Seite auch wieder musikalische Formen gehören, die in der Musikabteilung einsortiert sind. Dieses Einsortieren ist einfach Rundfunkgeschichte. Aber wenn wir von dem Phänomen ausgehen, dann kann Kunst im Radio etwas viel weiteres sein. In den Anfängen der Radiogeschichte war es das auch, denn damals haben sich ein experimenteller Strang und ein konservativ-theaterhafter Strang nebeneinander entwickelt. Im dritten Reich wurde der experimentelle Strang gekappt, um dann nach dem zweiten Weltkrieg wieder anzusetzen. Aber die Geschichte der Klangkunst fing an, als das Radio anfing.

WH: Ja gut, aber es gibt da einen wichtigen Punkt auf den ganz früh schon Hans Flesch hingewiesen hat: In der Regel sieht man das Radio als einen Kunstvermittler an. Irgendwo da draußen findet Kunst statt, und dann kommen ein Mikrofon und ein Ü-Wagen und die übertragen die Kunst. Flesch sagt nun, das gibt es nicht. Das Radio sollte nicht versuchen Kunst zu übertragen. Wenn es denn mit Kunst etwas zu tun haben will, dann kann es nur Kunst produzieren. Also sind wir uns einig, dass Klangkunst ein Stück produzierende Kunst ist, die im Moment das Radiohörens den Kunstanspruch erhebt?
Und kann man einen historischen Ausgangspunkt fixieren, wo die elektroakustische Kunst versucht hat, mit Radioapparaten Klänge zu erzeugen? Ich denke an die Rundfunkversuchsstelle der 30er Jahre in Deutschland. Oder an das Hörspiel „Pour en finir avec le jugement de dieu“ von Antonin Artaud, von dem ich mal gehört habe, dass Pierre Schaeffer da Toningenieur gewesen sein soll. Jedenfalls setzt dieses Hörspiel zum ersten Mal die Schallplatte als artistisches Medium ein, und Schaeffer begann kurz danach selbst, mit Schallplatten zu operieren.

NS: Die Platte als künstlerisches Medium, wurde schon im Bauhaus entdeckt. Da gab es die ersten Versuche auf Platte zu ritzen und darauf Klänge zu erzeugen. Also von dem Moment an, wo es das Aufnahmemedium Platte gab, gab es auch künstlerische Versuche damit.

WH: Deshalb war Flesch auch immer dafür, die Schallplatte einzusetzen. Und schließlich gibt es den berühmten "Nadelkurven"-Aufsatz von Adorno.

GN: Ich würde gerne noch einen Gedanken einbringen, weil das jetzt mehrfach anklang. Ich verstehe Radiokunst auch gerne als das Labor des Radios – so wie jede Chemiefirma ihr Labor hat. Und wenn dieses Labor schließen würde, müsste auch die Chemiefabrik nach ein paar Jahren schließen, denn die Produkte werden nicht weiter entwickelt. Es geht also um die Weiterentwicklung der Formen und Sprachen des Rundfunks. Das könnte ich mir als eine Zielstellung der Radiokunst vorstellen. Teilweise geschieht das ganz automatisch, wenn Radiokünstler auch in anderen Bereichen des Rundfunks arbeiten. Also wenn ich als Regisseur ein Hörspiel mache geht natürlich meine Erfahrung aus der Klangkunst in das Hörspiel mit ein.

MG: Mit diesem Anspruch sind ja die Experimentalstudios im deutschen Radio angetreten. Von der Rundfunk-Versuchsstelle über die Studios des WDR und des SWR.

GN: Ja, aber das SWR-Studio ist dann jahrelang von Luigi Nono besetzt worden. Es war einfach ein Studio zur Produktion zeitgenössischer Musik.

NS: Komischerweise sind die meisten Traditionen in Richtung Musik gegangen. Auch die Elektroakustik in Amerika gehört dazu. Man darf nicht vergessen, wie wichtig John Cage in dieser Entwicklung war. Fakt ist, dass wir in Deutschland außerhalb der elektroakustischen Musik kein Experimentalstudio mehr haben. An der Bauhaus-Universtität in Weimar versuchen wir diese Rolle zu übernehmen, aber wir sind an keinen öffentlich-rechtlichen Sender angegliedert.

GN: Es geht auch um die Frage: Wenn Klangkunst in die Geschichte der medialen Labors und der Experimentation gehört, dann hat sie grundsätzlich etwas Transitorisches. Sie ist mit spezifischen medialen Entwicklungsphasen verbunden.
Ich komme darauf, weil ich an Ruttmann denke, also an einen ganz frühen Pionier der Radioexperimentation. Er hat mit dem Lichtton-Verfahren des Films gearbeitet und schließt an die Experimente des abstrakten Films an. Dieses Faszinosum, dass man mit Licht Ton erzeugt und diese Synästhesie, die darin liegt, sind heute längst nicht mehr selbstverständlich. Daher die Frage an Euch: Ist diese Kunst eine Momentaufnahme, hat sie ihre Zeit? Verliert sie ihren Impact? Einfach deswegen, weil neue medialen Entwicklungen die alten überlagern?

WH: Ich glaube die Klangkunst sucht sich ihren Träger. Sie hat ein Eigenleben entwickelt. Sie wird ihren Träger nutzen, wenn der Träger bereit ist, sich nutzen zu lassen. Wenn aber der Träger nicht bereit ist, wird sie sich nicht in nichts auflösen, sondern sich andere Träger suchen – zum Beispiel im Internet, wo ja Seiten täglich zunehmen, die Klang in hoher Qualität bieten oder die interaktiv mit Klang arbeiten. Die Frage ist, ob das Radio sich so mitentwickelt, dass es als Träger für eine so lebendige und chamäleonhafte Szene fungieren will. Ich meine, es täte dem Radio gut, sich mit dieser Szene in Verbindung zu halten oder sich als Träger weiter anzubieten, weil die Klangkunst zum einen eine Wurzel im Radio hat, nicht artfremd ist, und weil sie gleichzeitig auch das Radio mitverändern kann.

NS: Dabei darf man nicht vergessen, dass die Klangkunst völlig unabhängig vom Radio existiert. Die Klangkunst in ihrer Vielseitigkeit braucht das Radio überhaupt nicht. Sie lebt vom Kunstbetrieb, sie lebt von der Performance, sie ist in Teilen auch unabhängig vom Radio entstanden. Das Radio ist ein Strang von vielen. Und wenn das Radio nicht mehr mitmacht, ist das der Klangkunst völlig egal. Sie wird sich mit den neuen Medien auch weiter entwickeln. Das Radio sollte eher schauen wie es dabei bleibt.

AB: Immerhin haben die Rundfunkanstalten in Europa aber eine essentielle Rolle für die Klangkunst gespielt – die BBC hatte den Radiophonic Workshop*, der WDR hatte ein elektronisches Studio, Pierre Schaeffer hat im Radio angefangen – also stammen alle Begriffe, über die wir heute reden, aus dem Radio und wurden dort mit sehr viel finanziellem Aufwand in Gang gesetzt. Inzwischen haben sich die Rundfunkanstalten aus diesem Feld immer mehr zurückgezogen, weil es zu kostspielig war, und weil die technischen Mittel inzwischen für jeden zugänglich sind.

GN*?: Ja, aber trotzdem stimmt es, dass die "Intonarumori" von Russolo 1921 nichts mit dem Radio zu tun hatten, ebenso wenig wie die zeitgleichen Experimente im russischen Formalismus und in der frühen bolschewistischen Kunst, eine ganze Stadt zum Klingen zu bringen. Da geht es nicht um Radiokunst, sondern um Klangbewältigung. Die Großstädte, die Anfang des Jahrhunderts entstehen, erzeugen auf einmal einen ungeahnten Lärmpegel. Darauf antwortet die Kunst und sucht Mittel, um die neuen Hörsituationen zu bewältigen.

NS: Und später folgen dann zu den neuen Musikentwicklungen mit Cage und Newman* in Amerika – eine Bewegung, die dann in die Performancekunst übergegangen ist.
Ein Punkt ist allerdings sehr wichtig: Das Geld! Die Kunst hat kein Geld, das Radio hat Geld. Insofern bleibt das Radio ein großer Träger für diese Künstler. Und das ist glaube ich eine große Chance des Radios. Das klingt vielleicht ein bisschen banal, aber es ist so.

MG: Andererseits gibt es sehr viele freie Radios wie Resonance FM in London oder die Mitglieder des Netzwerkes La Radia, die wenig Geld haben und trotzdem viel produzieren. Offenbar haben Künstler grade heute wieder ein massives Interesse daran, mit diesem Medium zu arbeiten. Da gibt es einen gewissen Retro-Effekt, einen nostalgischen Reiz. Gleichzeitig hat das aber auch damit zu tun, dass Einschränkungen immer spannend sind – das bedeutet ja künstlerisch eine Herausforderung. Eine auditive Arbeit zu schaffen, die in sehr vielen verschiedenen Kontexten funktioniert – eine Installation für tausende von Wohnzimmern, Autos und Küchen und Walkmans – das reizt viele Künstler.
Vielleicht können wir bei unserer Begriffsbestimmung noch einmal zurück den künstlerischen Arbeiten gehen und phänomenologisch fragen: Welche Klangkunst wird denn im Radio gemacht.

GN: Für mich ist das Radio ein narratives Medium, und das bedingt auch die Dramaturgie der Radiokunst. Da habe ich mich oft mit Künstlern gestritten, besonders mit denen, die aus der Performance kommen und eine andere Sichtweisen haben. Aber ich muss sagen, zumindest bei dem Werk, das sie für dieses Haus geschaffen haben, haben sie mir dann Recht gegeben. Die simple Dramaturgie, eine Geschichte von A bis Z zu erzählen wie im Hörspiel, wie in jedem normalen Krimi, diese Dramaturgie kennzeichnet auch Klangkunst-Stücke. Hier liegt der Unterschied zu einer Performance, die konzipiert ist für einen Raum, wo mein Körper sich im Raum bewegen kann und die Dramaturgie in diesem Moment herstellt, während das Radio ein Zeitmedium ist und somit ist auch Radiokunst ein Zeitmedium.

AB: Da möchte ich gleichzeitig zustimmen und widersprechen. Einerseits ist das, was wir in Deiner Redaktion gemacht haben, immer so eine Art widerspenstiger kleiner Guerillakämpfer, der alles tut, was im Radio nicht so richtig erlaubt ist: Er ist viel zu lange zu leise, es gibt keinen Text, es krusselt und krischelt, man kann es irgendwie nicht richtig beim Autofahren hören, man kann nicht richtig dazu einschlafen, man dabei kann auch nicht vernünftig Sex haben oder sonst etwas, weil es zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Man weiß nicht mal, was es eigentlich ist. Die Kunst, über die wir hier grade sprechen, macht etwas, was für das Radio nicht typisch ist, was 98% der Radiohörer nicht erwarten würden. Dementsprechend hat das Radio diese Kunstformen nach hinten verdrängt, auf 24 Uhr, wo es niemanden mehr stört.
Allerdings glaube ich, dass der Begriff radiophon, der in den 50er oder 60er Jahren wichtig war, heute nicht mehr gilt. Damals ging man immer noch von einem Radio aus, das mono war, wo man Sprachverständlichkeit brauchte, wo die Übertragungswege technisch schlecht waren, und wo man keine große Dynamik ausfahren konnte. Heute ist das anders. Im Jahr 2011 kann ich ein sehr dynamisches leises Werk mit viel Tiefe genauso im Radio senden wie irgendwo anders. Für mich heute als Künstler hat der Begriff radiophon von dieser technischen Seite her keine Bedeutung mehr. Ich kann genauso gut eine CD herausbringen oder ein Konzert spielen. Das hat für mich die gleiche Wertigkeit und ich würde es auch genauso produzieren. Aber was das Radio von uns Künstlern fordert ist ein Nachdenken über den Kontext von Hörspielredaktionen, die immer auf eine narrative Ebene bedacht sind. Ich habe mich immer geweigert zu sehr narrativ zu sein.

GN: Du warst es aber …

AB: … wahrscheinlich war ich es. Aber wir haben ja auch oft über musikalische Strukturen wie die Sonatenform oder ähnliches gesprochen. Strukturelle Dinge wie ein Triptychon oder fünf Bilder mit Pausen dazwischen.

GN: Aber die Sonatenform ist ja auch narrativ, die erzählt die Geschichte von einem männlichen und weiblichen Thema, die in einen Konflikt geraten und am Ende wird der Konflikt gelöst.

NS: Also ich habe mal die These aufgestellt, dass die Komponisten ins Radio gehen, wenn sie Programmmusik machen wollen. Christian Calon macht in der Regel abstrakte Stücke. Nur wenn er ins Radio geht, will er einen politischen Inhalt oder einen Text vermitteln.
Die Frage der Technik ist dabei sehr wichtig. Wir müssen heute von einer vollkommen anderen Radiotechnologie und anderen Rezeptionsbedingungen ausgehen. Und da kann man nicht mehr von einem narrativen linearen Medium sprechen, weil es plötzlich genauso Begleitmedium ist, wie aber auch narratives Medium, das hohe Kunst präsentiert, weil die Leute sich fertige Formate abrufen. Die Radiokunst verfügt plötzlich über Archivcharakter. Man ruft sich sein Hörbuch über die Apps auf sein Iphone und dann hört man das an, wenn man gerade Auto fährt.

GN: Ja aber Hören bleibt nun mal ein linearer Akt.

WH: Das ist nicht so einfach. Es gibt durchaus eine Environment-Musik, die nicht linear ist, sondern einfach tönt. Warum ist Techno so beliebt? Weil die Leute keine Musik mehr hören wollen, sondern einfach eintauchen in ein Etwas, das nicht aufhört und nicht anfängt, sondern irgendein kosmisches Momentum mit sich führt. Und da kann man gar nichts Lineares erzählen, sondern da muss man sozusagen rein und wieder raus. Und das findet eben auch im Radio statt! Das Radio kann durchaus auch überhaupt nichts erzählen.

NS: Das ist zum Beispiel bei den interaktiven Radiomodellen des Wiener Kunstradios der Fall. Da werden weltweit verschiedene Fragmente kreiert, die dann nach Zufallsprinzipien oder nach dem Fluss der Dinge neu zusammen kommen. Man kann rein und raus wie man möchte, das hat keinen Anfang, kein Ende, das ist ein Fragment, das fluktuiert und ständig neu im Entstehen ist, trotzdem gesendet wird und im Radio möglich ist.

GN*?: 80% der Radionutzung ist das Einschalten von Klangteppichen und nicht mehr das Abrufen von linearen Informationen. Das muss einfach irgendwie tönen. Bloß nicht zu viel reden. Hauptsache irgendeine Muzak-ähnliche Musikmischung, die sich immer wiederholt und das Allerbekannteste noch einmal wiedergibt.

MG: Das gilt aber auch für unser Programm bei Deutschlandradio Kultur, das sich ja eigentlich der Beliebigkeit entgegenstellen will. Es hat eine Klientel, die eben grade die inhaltliche Kompetenz schätzt und genau deswegen einschaltet. Das verschafft der Klangkunst im Radio einen entscheidenden Vorteil gegenüber Präsentationsformen in Galerien oder Theatern, wo das Publikum gezielt hingeht. Das Radio schaltet man ein und hat sich dann mit etwas Unerwartetem auseinanderzusetzen.

NS: Ich will noch einen anderen Punkt anbringen, der wichtig ist, wenn man sich um die Zukunft der Klangkunst bemüht: Die Qualität der Audioproduktion. Inzwischen wird an sehr vielen Stellen mit Audio gearbeitet. Das bringt auch eine Schulung des Hörens mit sich, ein Handwerk des Umgangs mit Klängen, ein Glasperlenspiel, eine hohe Kunst. Und die haben wir in der Radiokunst maximal verfeinert. Ganz gleich welches Genre sie bedienen, die Klangkunststücke haben alle eine sehr sehr hohe Qualität im Umgang mit akustischem Material, mit dem Hören, mit der Montage und musikalischen Gestaltung. Beim Unterrichten frage ich mich ständig, was bringe ich den Studierenden jetzt eigentlich bei, angesichts dieser Vielzahl und Konvergenz von Medien? Dann merke ich immer, was ich ihnen beibringen kann, ist die hohe Kunst des Klanges und des Hörens. Wenn sie davon etwas gelernt haben, ist es mir egal, wo sie es einsetzen – ob das im Game Design oder im Film-Ton oder in der Radiokunst. Dabei haben die öffentlich-rechtlichen Sender einen sehr großen Vorteil und auch eine Verantwortung, das Wissen aufrecht zu erhalten.

GN: Ich danke Dir für die Steilvorlage Natalie, das führt direkt zu dem Klangarchiv, über das wir eigentlich hier reden. Das ist das Ziel, das Konzept, unter dem ich versucht habe, es aufzubauen. Und zwar selbst als Lernender. Denn ich hatte selbst eine sehr bescheidene Ahnung von dem Medium als ich anfing. Und das sieht man auch in der Entwicklung des Programms über die Jahre. Dabei hatte ich immer den unbeugsamen Qualitätsanspruch, mit den verfügbaren Mitteln best-of Versuche zu schaffen. Es sind von Meistern gemachte Werke dabei, sprich Meisterwerke. Nicht alle, zweifellos. Das ist so nur in einer Rundfunkanstalt möglich, weil das Geld da ist. Da ist der Mäzen, den schon die Maler in der Renaissance brauchten, um ihre Kunst zu schaffen. Nebenbei haben sie auch Skizzen und Zeichnungen gemacht, die von keinem bezahlt wurden. So wie andere Künstler im Netz arbeiten oder ihre privaten Projekte machen. Aber die Möglichkeit haben, mal wirklich best-of herzustellen unter sehr guten Bedingungen, das hat die Werke hervorgebracht, die jetzt nach Arles gegangen sind.

MG: Damit sind wir bei dem Begriff 'Klang', den Du vorhin aufgemacht hast Wolfgang. Wir haben jetzt viel über Kunst geredet – vielleicht können wir noch mal überlegen, wie verändert sich der Begriff des Klangs. Andreas, Du als jemand, der ein tiefgreifendes Wissen über Klang besitzt, hast das Gefühl, dass sich der Umgang mit Klang verändert? Auch die Wahrnehmung von Klang, die Wertung von Klang in der Gesellschaft – ich glaube die Digitalisierung hat da sehr viel in Bewegung gebracht. Findet sich das auch in Deiner Arbeitspraxis wieder?

AB: Absolut. Klang ist ja heutzutage flüssig geworden. Das ist eine technische Diskussion, wenn ich jetzt mal von bestimmten Werkzeugen ausgehe. Das nächste Jahrzehnt wird davon geprägt sein, dass Klang komplett frei formbar sein wird. Ich kann heute aus jedem beliebigen Sample eine ungeheure Vielfalt von Klängen erzeugen. Und es ist unglaublich, welche Entwicklungen uns noch bevor stehen. Es wird möglich sein, aus kompletten Musikstücken einzelne Samples herauszuschälen: das Basssolo aus einer alten Jazz-Aufnahme kann man raustrennen und dann zusammenmischen mit etwas komplett anderem. In Japan gibt es die Vocaloid-Software, das sind gemorphte, geklonte Stimmen, die als Outsourcing an die Jugendlichen gegeben werden, die daraus Songs machen, die dann wiederum Charterfolge werden und mit einer geklonten 3D-Visualisierung auf die Bühne gebracht werden mit Live-Band. Solche Entwicklungen werden wir in den nächsten 10 Jahren zunehmend erleben. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits bekommen wir dadurch eine Freiheit in der Klangestaltung, die vorher undenkbar war. Das wirft aber auch alles vorher Dagewesene über den Haufen: Noch in der Musique concrète konnte man sehen, dass bestimmte technische Mittel eine bestimmte Ästhetik erzeugen. Heute ist alles so frei geworden, dass es natürlich auch sehr willkürlich wird und beliebig.

WH: Aber das könnte doch dann dieser These recht geben, dass diese ganze Klangkunst und Ihre Künstler eigentlich nur wie Nam June Paik die Forscher waren, die die Sony-Instrumente ausprobieren, bis dann die große Industrie kommt, um daraus das eigentliche Geschäft zu machen. Und zwar in einer Qualität, die ihre Arbeit völlig überflüssig macht.

AB: Ich glaube, dass die Industrie uns heute als Klangkünstler gar nicht mehr braucht. Da überschätzen wir leicht unsere wirtschaftliche Wirkungsmacht.

GN: Aber, wenn ich Dich vor Dir selbst in Schutz nehmen darf, ich sehe das nicht so pessimistisch, weil das in der Kunstgeschichte andauernd passiert ist. Dass etwas, was Forscher oder Künstler entwickelt haben, popularisiert, vermasst worden ist. Währenddessen haben dieselben Künstler oder deren Kinder wieder an einem neuen Punkt angefangen und etwas anderes initiiert, das dann irgendwann mal kostbar wird. Die Popularisierung sehe ich dabei als Demokratisierungsprozess. Sie bringt die Macht der Kunst in die Hand von jedermann. Aber das wird nicht die Innovation abschneiden und die künstlerischen Eingriffsmöglichkeiten in diese unglaublich komplexe Welt. Die großen Künstler setzen einfach an einem anderen Punkt an.

AB: Aber es gibt auch große Chancen, die dort für das Radio bestehen. Sich zu öffnen und diese Interaktionsidee weiter voranzutreiben. Dadurch kann das Radio auch wieder eine Position übernehmen, wie vielleicht in den 50er Jahren, als die großen Experimentalstudios gegründet wurden. Indem man einfach sagt: wir öffnen unser Programm. Auch wir Künstler können durchaus sagen: wir öffnen unsere Produktion. Wenn ich jetzt zum Beispiel ein Stück aus einem gewissen Klangmaterial produziere, warum sollte man davon nicht zum Beispiel Einzelspuren freigeben und sagen „Leute, Ihr könnt das remixen“. Wir öffnen das und wir fordern Euch auf, daran teilzuhaben und selber kreativ zu sein. Die jungen Leute, die ich kenne, sind alle total wild darauf, ihre Sachen zu machen, und finden Dinge, die in den Randbereichen der Musik entstehen, sehr sehr aufregend. Da bestehen große Chancen, mehr auf die Zuhörer zuzugehen.
Noch eine kleine Anmerkung – nicht Kritik: wir dürfen nicht zu schulmeisterlich werden, wenn wir davon sprechen, dass es um die hohe Kunst des Hörens geht, weil das ist etwas ist, was junge Leute sofort abschreckt, wenn man denkt, ich muss jetzt erst mal lernen das zu hören. Bevor ich in der Lage bin so ein Stück zu verstehen, muss ich erst mal zwanzig andere Produktionen anhören. Dieses Gefühl dürfen wir nicht vermitteln.

NS: Ja, ich weiß schon, dass die Gefahr besteht. So darf man nicht rüberkommen, aber meine Erfahrung mit den Studenten ist, dass die es am meisten schätzen, wenn wir in der Kunst des Produzierens anfangen, also wirklich direkt in die Feinverarbeitung gehen. Da gibt es dann HipHopper, die plötzlich entdecken, dass es in der Klangkunst so unglaubliche Klänge gibt, dass sie sofort HipHop-Stücke daraus machen wollen. Sie sind absolut fasziniert von diesem hohen handwerklichen Niveau. Sie machen dann daraus ihre Beats oder ihre Rhythmen. Dabei dürfen wir die ganze elektronische Musik nicht vergessen. Wir bleiben gerade immer in dem Bereich Klangkunst, Elektroakustik, im E-Musik-Bereich. Die Musikwelt besteht ja inzwischen zu 80% aus elektronischer Musik, mit ihren ganzen Facetten und Reichtümern und ich glaube diese Durchmischung mit dem Interaktiven, das ist ein Riesenpotential und das finde ich im Moment sehr spannend. Meine Studenten kommen ja mit diesen Einflüssen, stoßen auf Klangkunst, Radiokunst, also das, was wir noch eher traditionell zu vermitteln versuchen, und machen daraus etwas ganz eigenes. Und das finde ich spannend, das gegenseitige voneinander Lernen.

GN: Jeder Maler fängt mit dem Kopieren an. Wenn Du das Zeichnen anfängst, dann zeichnest Du am besten das nach, was ein anderer schon gekonnt hat. Ich lese gerade die Autobiographie von Keith Richards, da beschreibt er wie er zwischen 14 und 18 Jahren nur die Gitarrenriffs anderer nachgespielt und analysiert hat von den Platten, die damals schwer zu kriegen waren in England, der hatte kein Geld und hat sich deshalb Geld aus Amerika schicken lassen, nur um die Gitarrenriffs nachspielen zu können. So fängt man eigentlich an.

NS: Wichtig ist es, die Werke endlich freizugeben. Die Sender sind bisher meist auf ihren Schätzen sitzen geblieben. Wenn dieses Material der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, dann ist das ein großer Fortschritt. Die Zeit ist glaube ich gekommen, die Sammlungen aus den Kellerräumen zu holen.

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